Böses Erwachen nach der Einstellung?

Im Einstellungsprozess zählt erst einmal das Kandidatenprofil, genauer gesagt Qualifikationen und Arbeitserfahrung. In den Bewerbungsgesprächen bekommt man dann auch ein Gespür für die soft skills des Bewerbers. Aber ob es ein guter Match ist, das zeigt sich tatsächlich erst in der Praxis und bisweilen sind die Erfahrungen auf beiden Seiten schmerzhaft, insbesondere wenn der Kandidat eine Führungsposition besetzt und nicht richtig ankommt. Denn jeder Mensch „tickt“ anders, wird also von unterschiedlichen Grundmotiven angetrieben, was sich wiederum im Verhalten äußert.

Wäre also nicht schlecht, zu wissen, was den neuen Mitarbeiter so antreibt, um Konflikten im Team vorzubeugen, oder?

Das Reiss Motivation Profile

An dieser Stelle kommen Führungsdiagnostiken ins Spiel, so z.B., das Reiss Motivation Profile®. Es geht auf den amerikanischen Professor Steven Reiss zurück und misst 16 Lebensmotive, die uns alle in unterschiedlicher Intensität antreiben. Unsere Lebensmotive müssen befriedigt sein, damit wir unser Leben als sinnvoll empfinden. Sie sind das Ergebnis unserer Gene und Erfahrungen und sind weitestgehend stabil über unsere Lebensphasen.  Jedoch verändert sich die Art und Weise, wie wir unsere Leistungsmotive ausleben, denn je älter wir werden, ein desto größeres Verhaltensrepertoire steht uns auch zur Verfügung. Das macht den Einsatz gerade in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Führungskräfteentwicklung im Besonderen interessant.

Das wertvolle an der Reiss-Diagnostik ist, dass sie die eigenen Antworten ins Verhältnis zu tausenden von anderen Menschen setzt, die an den wissenschaftlichen Studien teilgenommen haben. Das persönliche Profil ist also immer in Relation zu verstehen.

Das Profil der persönlichen Lebensmotive kann uns helfen zu verstehen: Warum bin ich so wie ich bin? Warum reagiere ich in manchen Situationen so? Das ist natürlich nicht nur für Führungskräfte spannend zu erkennen und daher auch keine reine Führungsdiagnostik. Was das Reiss-Profil aber in der Führungskräfteentwicklung so interessant macht, ist die Typologie oder das Muster, das sich aus der Kombination bestimmter Lebensmotive ergibt. Dazu ein kleines Fallbeispiel:

Eine sehr qualifizierte Bewerberin hat den Prozess erfolgreich durchlaufen und kommt als neue Führungskraft an Bord in Unternehmen. Sie übernimmt ein 5-köpfiges Team, doch nach wenigen Monaten beginnt es, deutlich zu knirschen.

Sie möchte ihr Team weiterentwickeln, sieht aber aktuell nicht das Potenzial dazu und beklagt sich über das mangelnde Engagement der Mitarbeiter.

Ihre Mitarbeiter wiederum fühlen sich mitunter orientierungslos und vermissen echte Führung.

Konfliktlösung durch Führungsdiagnostik?

Als top Talent nimmt sie an einem Führungskräfteprogramm teil, in dem auch die Reiss-Diagnostik zum Einsatz kommt. In ihrem Profil geben u.a. die Lebensmotive Macht und Unabhängigkeit Aufschluss darüber, warum die Zusammenarbeit mit ihrem Team bislang nicht gut funktioniert.

Macht im ausgeprägten Sinne bedeutet: Ich trage gerne die Verantwortung und führe ein Team an, bin eigeninitiativ und leistungsorientiert. In geringer Ausprägung stehe ich lieber in zweiter Reihe, bin geduldig und lege unter Umständen mehr Wert auf eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit als meine Vergleichsgruppe.

Das Motiv Unabhängigkeit in starker Ausprägung äußert sich z.B. in einem hohen Bedürfnis nach Autonomie und eigenständiger, selbstverantwortlicher Arbeit. Während eine geringe Ausprägung für eine hohe Teamorientierung spricht. Menschen mit dieser Ausprägung möchten sich emotional mit anderen verbunden fühlen und legen Wert auf Gemeinsamkeiten.

Legt man diese zwei Dimensionen, Macht und Unabhängigkeit, auf jeweils eine Achse übereinander, ergeben sich anhand der individuellen Ausprägung pro Dimension, unterschiedliche Führungstypen.

Unsere Führungskraft hat ein sehr gering ausgeprägtes Machtmotiv bei einem eher hoch ausgeprägten Unabhängigkeitsmotiv. In der Führungstypologie sprechen wir da von einer moderierenden Führungskraft. Das bedeutet, sie ist nicht der klassische Front Runner, der das Team unbedingt anführen will. Sie kann sich auch zurücknehmen und Fakten für sich sprechen lassen. Gleichzeitig schätzt sie es, allein arbeiten zu können und in ihren Entscheidungen autonom zu sein. Sie begreift sich eher als Coach, der den Mitarbeitern bei Bedarf zur Seite steht.

Jeder Führungstyp hat seine eigenen Konflikte

Diese Grundmotivation trifft nun auf ein Team, dass es gewohnt ist, klare Ansagen zu bekommen. Der frühere Stelleninhaber hat nicht viel Wert auf Eigeninitiative gelegt, ihm war es wichtig, überall eingebunden zu sein und am Ende die Entscheidung zu treffen. Die Mitarbeiter fühlen sich mit dem Führungswechsel also überfordert, da ihre neue Chefin plötzlich Eigeninitiative einfordert. Sie möchte Mitarbeiterpotenziale entfalten, indem sie ihre Leute auch einfach mal machen lässt und sich eher als Coach begreift.

Da also liegt das Kernproblem, dass sie als neue Führungskraft nicht richtig ankommt: die unausgesprochenen Erwartungen auf beiden Seiten, die beiden nicht einmal bewusst sein müssen. Das Bewusstsein über die eigene Motivationslage ermöglicht dann erst, offen in den Austausch zu gehen, eine neue Führungsstrategie zu erarbeiten und das eigene Verhalten situativ anzupassen. Natürlich kann unsere neue Führungskraft ihre Motive nicht einfach über Bord werfen, die sind wie sie sind. Aber sie lernt nun, anders damit umzugehen.

Denn sie versteht jetzt ihre eigene Motivlage besser und sieht auch klarer, was ihr Team braucht. So können sie zumindest offen miteinander sprechen. Gerade jetzt zu Anfang ist es wichtig, dass sie sich ihrem Team zuwendet, um die einzelnen Fähigkeiten und Motivatoren ihrer Mitarbeiter zu verstehen. So finden sie gemeinsam Aufgaben und Projekte, die jeder übernehmen kann und sie einigen sich auf einen Arbeitsmodus, der den Mitarbeitern mehr Orientierung gibt. Gleichzeitig schafft sie so die Grundlage dafür, ihre favorisierte coachende Rolle einnehmen zu können.

Was Persönlichkeitsdiagnostik leisten kann

So bietet das Reiss-Profil, als ein mögliches Instrument der Führungsdiagnostik, eine Struktur, mit der wir die eigene Persönlichkeit besser einordnen können. Denn unsere Persönlichkeitsstruktur ist für uns selbst und auch für andere auf den ersten Blick nicht erkennbar und nur die wenigsten von uns tauchen tief genug ein, um sich selbst zu ergründen. Daraus ergeben sich viele Missverständnisse und Konflikte. Denn sichtbar ist für uns erst einmal nur ein Problem, ein Konflikt, der sich z.B. aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Grundmotive ergibt.

Erst wenn wir verstehen, was uns und was den anderen antreibt, können wir aufeinander zugehen und eine Lösung finden. Das ist der Beitrag, den diagnostische Verfahren zur Konfliktlösung beitragen können. Und das kann auch den Einsatz im Onboarding attraktiv machen, damit Konflikte gar nicht erst entstehen und die neue Führungskraft die best möglichen Start-Voraussetzungen antrifft.

 

Über JCFinch:

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*Auf Geschlechterdifferenzierung wird in diesem Artikel verzichtet. Bezeichnungen sind für alle Gender zu verstehen.